< zurück zum Blog

Wir müssen über Public Health reden #medizinbrennt

Liebe Leute, wir müssen über Public Health reden. In diesem Text geht es zwar auch, aber keineswegs nur um die Pandemie, die sich wie ein Brennglas über unser Gesundheitssystem gelegt und dadurch so einige Missstände sichtbar gemacht hat. Es könnte sich also lohnen, nicht nach den ersten beiden Absätzen bereits auszusteigen. Aber was genau hat […]

Wir müssen über Public Health reden

Liebe Leute, wir müssen über Public Health reden. In diesem Text geht es zwar auch, aber keineswegs nur um die Pandemie, die sich wie ein Brennglas über unser Gesundheitssystem gelegt und dadurch so einige Missstände sichtbar gemacht hat. Es könnte sich also lohnen, nicht nach den ersten beiden Absätzen bereits auszusteigen.

Aber was genau hat es mit „Öffentlicher Gesundheit“ ganz konkret auf sich? Wikipedia formuliert es folgendermaßen: „Public Health […] ist das anwendungsorientierte Fachgebiet, das sich mit der Gesundheit der Bevölkerung (auch als Bevölkerungsgesundheit oder Volksgesundheit bezeichnet), insbesondere mit der Vorbeugung von Krankheiten, Förderung der Gesundheit und Verlängerung des Lebens beschäftigt. In den Anfängen (als Fach Hygiene oder Gesundheitspflege) ging es um die Eindämmung von Infektionskrankheiten. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus ein umfassendes Verständnis über die Verbreitung und Verhinderung von Krankheiten in der Bevölkerung.“

Im vergangenen Jahr haben Kliniken aufgrund der katastrophalen Zustände innerhalb unseres Gesundheitssystems gestreikt und es hat niemanden interessiert. Als es dann mehr oder weniger zeitgleich Flugausfälle gab und Urlaubsreisen auf dem Spiel standen, war die kollektive Empörung allgegenwärtig und unüberhörbar. Das sagt viel über uns uns unsere Haltung zu Public Health aus. Es gibt auf Twitter den Hashtag #medizinbrennt, unter dem Menschen, die im Gesundheitssystem tätig sind, den Status Quo dokumentieren. Interessiert nur leider niemanden. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem man selbst auf Hilfe angewiesen ist und 9 Stunden in der Notaufnahme sitzt oder der Triage zum Opfer fällt. Dann sind das Geschrei groß und die Empörung ohrenbetäubend laut. Public Health hat in Deutschland also etwas mit einer gewissen Anspruchshaltung zu tun, die nicht zwingend mit Solidarität einhergeht. Denn natürlich gibt es eine Korrelation zwischen dem eigenen Verhalten während einer Pandemie und der Situation in den Kliniken.

2019 kommt nicht zurück, indem man das Virus ignoriert und Freiheit brüllt.

Die Tagesschau berichtete vergangene Woche, dass 65 Millionen Menschen an Long Covid leiden und Karl Lauterbach räumte öffentlich ein, dass SARS-CoV-2 das Immunsystem schädigt (dass ich euch hierzu keinen Link anbieten kann, weil sich ausnahmslos alles zu dieser Sache hinter Bezahlschranken befindet, ist auch irgendwie spannend). Die Fakten zum aktuellen Stand der Wissenschaft liegen theoretisch für alle frei zugänglich auf dem Tisch. Hier nur ein Beispiel. Interessiert aber niemanden mehr. Zu fest verankert ist das Märchen von der Immunschuld in unseren Köpfen. Und während Buschmann sich öffentlich einen auf die Freiheit runterholt und nun in NRW pünktlich zum Karneval das Ende aller Maßnahmen gefeiert wird, produzieren wir weiterhin täglich Todesfälle und chronisch kranke Menschen, ohne dass sich eine Herdenimmunität einstellt.

Wer noch Maske trägt, wird ausgelacht. Diagnose: Angststörung. Wen Long Covid nach einer Infektion aus dem Leben schießt, wird ebenfalls ausgelacht. Diagnose: Psychosomatisch.

Wenn wir uns nun nochmal die oben zitierte Definition von „Public Health“ anschauen, kommen wir also nicht umhin, uns einzugestehen, dass die „Gesundheit der Bevölkerung“ und die „Eindämmung von Krankheiten“ zum aktuellen Zeitpunkt keine wirkliche Relevanz mehr haben und dem populistischen Freiheitsbegriff zum Opfer gefallen sind.

Wann wurde eigentlich aus Fakten ignorieren, Wissenschaft leugnen und mangelnder Schulbildung „Selbstdenken“ und „Gegen den Strom schwimmen“?

Weil in dieser Immunschuld-Sache große Verunsicherung herrscht, möchte ich an dieser Stelle zu einem kleinen Exkurs ausholen und zwei Videos mit euch teilen. Einmal eher simpel aufbereitet in „Es war einmal das Leben, Allzeit bereit! – Abwehrsystem des Körpers“ auf Netflix oder alternativ als Teil 1, Teil 2 und Teil 3 auf YouTube. Und dann nochmal „Alle krank: Ist unser Immunsystem im Arsch?“ von Quarks auf YouTube.

Die bittere Wahrheit lautet also: Das Immunsystem ist kein Muskel und es gibt keine Immunschuld. Die Masken und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind also keineswegs Schuld am Status Quo. Die Durchseuchung war und ist das Problem. Ein schönes Beispiel hierfür ist auch die katastrophale Lage in Schweden, wo es weder Maskenpflichten, noch Maßnahmen gab.

Die kollektive Haltung zu Prävention und Gesundheit müsste sich grundlegend verändern.

Aber wie kommen wir aus dieser Nummer wieder raus? Es ist natürlich fraglich, wie lange das Märchen von der Immunschuld noch funktioniert, wenn immer mehr Menschen so krank sind, dass sie „wirtschaftlich“ nicht mehr funktionieren. (Und auch nicht mehr gesund werden.) Wann realisieren wir kollektiv, dass sich augenscheinlich keine Herdenimmunität einstellt und dass „Leben mit dem Virus“ nicht bedeutet, so zu leben, als gäbe es kein Virus? Vermutlich wird es einen Kipppunkt geben, so wie wir auch den Kipppunkt mit den Masken beobachten konnten. Irgendwann gab es mehr Menschen ohne Maske als mit Maske und es ist gekippt, weil Menschen einfach träge Herdentiere sind, die mehrheitlich nicht auffallen und mit dem Strom schwimmen wollen. Wenn also jede*r von uns irgendwann mehrere Menschen persönlich kennt, die nicht mehr „funktionieren“, dann könnte es einen Kipppunkt geben, an dem wir anfangen, uns für saubere Luft und öffentlichen Gesundheitsschutz stark zu machen. (Aus astrologischer Perspektive könnte der Eintritt von Saturn in die Fische diese Entwicklung unterstützen.)

Gesundheit und der Kapitalismus – der Markt hat geregelt.

Ganz losgelöst davon müssten wir das System aber auch grundlegend reformieren. Unser Gesundheitssystem ist durch Privatisierungen und Fallpauschalen kaputtgespart worden und dem Kapitalismus zum Opfer gefallen. Ich weiss nicht, wie es euch geht, aber in meiner Welt wäre es ganz smart, wenn man Public Health von Kapitalinteressen entkoppeln würde. Wäre es nicht wünschenswert, wenn Kliniken keine Gewinne mehr erwirtschaften müssten und den Fokus wirklich auf die Gesundheit richten könnten?

Ich war selbst als freiberufliche Physiotherapeutin für diverse Praxen tätig, die sehr eng mit Ärzten (bewusst nicht gegendert) verbandelt waren. Diese Physio-Praxen waren in der Regel im selben Gebäude untergebracht und die Patient*innen wurden ausdrücklich dazu aufgefordert, das ausgestellte Rezept in der angegliederten Praxis einzulösen. Ich habe also physiotherapeutische Leistungen mit Auftraggebern (bewusst nicht gegendert) abgerechnet, die selbst die Rezepte ausgestellt haben. Und das ist jetzt nur ein klitzekleines Beispiel, an dem sich das Grundproblem aber vermutlich schon ganz gut ablesen lässt. Könnte es also sein, dass es nun an der Zeit ist, sich einzugestehen, dass Public Health und der Kapitalismus nicht unbedingt Best Buddies sind? (Auch für diese Erkenntnis setze ich große Hoffnungen in Saturn in den Fischen.)

Die Kritik, die ich stattdessen immer wieder lese, gilt aber fast ausnahmslos der „Alternativmedizin“.

In den vergangenen 3 Jahren wird von Verfechter*innen der „modernen Medizin“ häufig die „Alternativmedizin“ als Wurzel allen Übels genannt. Es gibt auch einige Influencer*innen, die sich seit Pandemiebeginn  dadurch Reichweite aufgebaut haben, dass sie Alternativmedizin per se verteufeln und als das Problem unseres Gesundheitssystems darstellen. Hier wird sich insbesondere an den beiden Themenfeldern „Homöopathie“ und „Heilpraktiker*innen“ abgearbeitet. Was ich bei alledem aber immer vermisse, sind Lösungsansätze.

Sind Homöopathie und Heilpraktiker*innen wirklich die Wurzel allen Übels?

Dass es Heilpraktiker*innen gibt, denen man umgehend die Zulassung entziehen sollte, steht außer Frage. Das Heilpraktikergesetz stammt aus dem Jahr 1939, was bereits einen Großteil der offenen Fragen beantworten dürfte. Im Gegensatz zu fundierten medizinischen Studiengängen und Ausbildungen handelt es sich bei einer Heilpraktikerprüfung um ein Multiple Choice Unterfangen, das man ablegen kann, ohne jemals einen Menschen angefasst zu haben.

Es geht hierbei lediglich darum, auszuschließen, dass man als Heilpraktiker*in „eine Gefahr für die Volksgesundheit“ darstellt. Das Bundesministerium für Gesundheit hat ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das das Heilpraktikerrecht nun nochmal einer längst überfälligen Prüfung unterziehen soll. Aber sind mit einer möglichen Reform des Heilpraktikerberufes all‘ unsere Probleme gelöst? Wohl kaum.

Warum nehmen Menschen alternativmmedizinische Behandlungen in Anspruch?

Das ist doch die Frage, um die es im Kern geht. Im Leben eines jeden Physios stellt sich früher oder später die Frage, ob man „den HP“ macht oder nicht. Der Hintergrund: In Deutschland zählen Physios zum medizinischen Hilfspersonal, das nur auf Anweisung des Arztes/der Ärztin tätig werden und nicht selbst diagnostizieren darf.

Das Problem: Als Physio in Deutschland kommst Du nicht umhin, zu diagnostizieren, wenn Ärzt*innen „LWS Syndrom“ auf die Verordnung schreiben. „Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule“ sind ein Symptom und keine Ursache. Wer dem Patienten oder der Patientin helfen will, macht sich also auf die Suche nach der Ursache. Viele Physios machen also auch noch „den HP“, um sich aus dieser Grauzone zu verabschieden. Wenn ich Rückenschmerzen habe, gehe ich selbst zu einem Physio/Heilpraktiker/Osteopathen. Einfach, weil der das Problem ganzheitlich betrachtet und die Ursache behandelt, während ein Arzt entweder spritzen oder mir ein Rezept für Schmerzmittel in die Hand drücken würde, um das Symptom verschwinden zu lassen.

Aus diesem Grund finde ich das pauschale Bashing von Heilpraktiker*innen tricky. Wobei diejenigen, die noch weitere, fundierte Ausbildungen mitbringen, sich von diesem Bashing höchstwahrscheinlich gar nicht angesprochen fühlen. Dass ich hier ausschließlich Physio Beispiele aufführe, ist btw meiner früheren Tätigkeit als Physiotherapeutin geschuldet. Ich bin mir aber sicher, dass Ergotherpeut*innen, Logopäd*innen, Pflegende und Ärzt*innen euch ähnliche Geschichten aus ihrem Arbeitsalltag erzählen würden, die alle auf das folgende Problem hinaus laufen:

Unser Gesundheitssystem richtet den Fokus auf das Symptom, das es zu eliminieren gilt.

Dass an diesem Symptom aber auch noch ein kompletter menschlicher Körper mit komplexen physischen Zusammenhängen,  einer Psyche und ggf. auch noch einer Seele dran hängt, wird in der Regel stur ausgeblendet. Und solange wir diese Zusammenhänge ausblenden und nicht auf einer professionellen und fundiert ausgebildeten Ebene miteinbeziehen, bleiben der alternativmedizinischen Scharlatanerie Tür und Tor geöffnet.

Wenn wir den Heilpraktiker*innen Beruf abschaffen und uns weiterhin weigern, den Menschen in seiner vollumfänglichen Komplexität zu betrachten, wird sich nichts, aber auch rein gar nichts, verändern.

Nur wenn wir die wissenschaftsbasierte Medizin um diesen ganzheitlichen Ansatz erweitern und unseren symptombezogenen Tunnelblick weiten, wird es uns gelingen, die Scharlatanerie im Gesundheitswesen einzudämmen. Dazu braucht es Menschen, die Brücken bauen. Menschen, die mit einem Bein im evidenzbasierten Feld stehen und mit dem anderen im alternativmedizinischen. Dazu braucht es ein offenes Mindset und das Eingeständnis, dass wir auch im Jahr 2023 noch nicht allwissend sind in Bezug auf diese faszinierende Wesen Mensch, das ziemlich wahrscheinlich aus mehr als einem Sammelsurium an Knochen, Muskeln, Organen und Bindegewebe besteht.

Ich fasse also nochmal zusammen: Wenn wir Public Health nicht abschaffen wollen, brauchen wir neben Solidarität und einer Entkoppelung des Gesundheitssystems vom Kapitalismus vor allem eine ganzheitlichere Betrachtung des Menschen und vor allem einen offenen Geist. 

Verglichen mit der Klimakrise sollte dieses Unterfangen doch ein Klacks sein.


Da Twitter mittlerweile zu einem Shithole für Bots und Faschos geworden ist, habe ich alle broken Links zu den Quellenangaben in diesem Artikel gelöscht.