Es ist mal wieder an der Zeit, das dreifach geimpfte Schlafschaf in mir zu channeln, denn der Sommer 2022 fühlt sich irgendwie sonderbar dystopisch an. “Don’t look up” war nach 2 Stunden und 18 Minuten zu Ende, aber der aktuelle “Film” dauert nun schon länger als 2 Jahre an.
Ich weiss nicht, wie es euch gerade geht, aber ich kann mich mit dem Menschsein zunehmend weniger identifizieren.
Möglicherweise habe ich irgendwas missverstanden. Bitte klärt mich auf, wenn ich irgendwas nicht mitbekommen habe, aber mein Kenntnisstand ist der Folgende: Unser Heimatplanet wurde von einer Pandemie überrollt, die mittlerweile schon viel zu viele Todesopfer eingefordert hat. Die Mehrheit hat sich mit dem Hoffnungsschimmer Impfung in den Sommer 2021 gerettet, aber dann kam Omikron um die Ecke und hat den ganzen Spaß irgendwie ausgehebelt. Es gibt das Problem “Long Covid”, von dem nach neuesten Studien mehr als 20% aller Infizierten betroffen sind, aber darüber redet irgendwie niemand. Uns stehen diverse Tools im Kampf gegen diese Pandemie zur Verfügung. Die Impfung zählt wegen Immun Escape vermutlich nur noch als halbes Tool. Alle anderen Tools wie Masken, Tests oder digitales Tracing haben wir abgeschafft. Die ominöse Schleimhautimmunität scheint sich nicht einzustellen. Somit hat jede einzelne Infektion ausschließlich Nachteile für die Infizierten. Ich wage die Behauptung, dass man in der Vergangenheit auf diese Weise Pandemien nicht in den Griff bekommen hätte.
“Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.”
Wer kennt es nicht, dieses Zitat eines bekannten Talkshow-Virologen, der mit fast jeder seiner Einschätzungen daneben lag. Wobei ich finde, dass dieses Statement nicht dazu gehört. Denn wenn wir wirklich gelernt hätten, mit dem Virus zu leben, würden wir Masken in Innenräumen tragen und hätten nicht alle Testzentren abgeschafft. Was wir aktuell tun, ist so zu leben, als gäbe es keine Pandemie. Back to 2019 mit Augen und Ohren fest zuhalten. LALALA!!!
Ich muss jetzt auch mal wieder leben. Den Sommer genießen. Ich hab’ einfach keinen Bock mehr.
Nun ist es keineswegs so, dass ich diese Gedanken nicht nachvollziehen könnte. Aber ich nehme weiterhin Nutzen/Risiko Abwägungen vor. Eine 20% Wahrscheinlichkeit für Long Covid bedeutet für mich als Selbstständige “Game Over”. Grundsicherung. Armut. Es gibt keine*n Arbeitgeber*in, der oder die mir weiter ein Gehalt zahlt. Und es gibt keine Behandlungsoptionen. Die Charité läuft über und nimmt keine Betroffenen mehr auf. Warum zur Hölle sollte ich also dieses 20% Risiko eingehen? Bitte erklärt es mir!
Während ich das hier schreibe, brennt unweit von meinem Computer in Brandenburg der Wald. Bei Twitter konnte man gestern mehr oder weniger live mitverfolgen, wie immer mehr Ortschaften evakuiert wurden und die Hubschrauber Löschwasser aus Badeseen abgeschöpft haben. Drum herum badende Menschen. Diese Bilder hätte kein Regisseur für Apokalypse Filme realistischer umsetzen können.
Währenddessen vermelden alle größeren Medien eine “Hitzewelle”, ohne auch nur ein einziges Mal die Klimakrise klar zu benennen und bebildern ihre Meldungen mit “Sommer Sonne Freibad” Fotos, die Leichtigkeit und Freude suggerieren.
Leute, ich komme gerade aus dem Urlaub. Ich bin frisch erholt und alles. Ich habe mich 2 Wochen von tagesaktuellen Meldungen disconnected und viel geatmet. Aber ich komme zurück und realisiere umso stärker, wie wir es gerade kollektiv auf so vielen Ebenen verkacken! Diese Pandemie ist ein Witz gegen die Klimakrise. Die Schwurbler, die behaupten, Impfungen würden uns umbringen und unter Masken würde man ersticken, sind nicht nur auf Putins Seite, was den Angriffskrieg auf die Ukraine angeht, sondern leugnen natürlich auch stabil die Klimakrise.
Ich weiss nicht genau, warum ich nicht auch einfach auf alles scheisse und warum ich das alles so unerträglich finde. Vielleicht liegt es an meinen starken (und alles andere als unmoralischen) Schütze-Anteilen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich in meinen Zwanzigern vier Jahre lang durch die Hölle gegangen bin und professionell entmietet wurde. Diese vier Jahre haben mich verändert. Mich demütig gemacht. Denn verglichen damit sind die Einschränkungen meines persönlichen Lebens durch diese verfickte Pandemie (zumindest bisher noch) ein Witz.
Wollen wir also wirklich einfach auf alles scheissen?
Den volkswirtschaftlichen Schaden mit Millionen Long Covid Erkrankten einfach hinnehmen für einen Sommer voller Leichtigkeit? Für Einkaufen ohne Maske und Kinobesuche ohne Schnelltest? Ich weiss, dass es sich unfassbar weird anfühlt, wenn man als Einzige*r im Supermarkt noch Maske trägt. Das Phänomen des Gruppendrucks wird hier meiner Meinung nach massiv unterschätzt und ist sicherlich auch ein Grund dafür, warum viele irgendwann auch einfach selbst drauf verzichten. Ich will mir nicht ausmalen, was eine Wiedereinführung von Maßnahmen im Herbst an Hass und Gewalt nach sich ziehen wird. Wollen wir da wirklich als Gesellschaft einknicken? Schattenfamilien und Vorerkrankte opfern und den Schwurblern, den Nazis und der FDP das Feld überlassen?
Das will ich einfach nicht glauben.
Jenny
Vermutlich werden wir einfach etwas robuster werden müssen.
Nun bin ich es seit 35 Jahren gewohnt, aufgrund meiner Mixed Race Familie angestarrt zu werden, sofern ich nicht alleine unterwegs bin. Mir ist es nach jahrzehntelanger Übung völlig wumpe, ob jemand sich darüber mokiert, dass ich konsequent Maske trage, sofern wir uns nicht draußen und mit Abstand aufhalten. An jeder Ampel trage ich z. B. definitiv Schnutenpulli, solln se doch glotzen.
Wir müssen da viel selbstbewusster und unempfindlicher werden. Legt euch für die Standardsprüche eine Standardantwort zu, die darf auch genauso übergriffig sein, wie der Standardspruch, den ihr kassiert habt.
Friede, Freude, Karma am Arsch, mit Long COVID zahlt das Karma eure Miete eher nicht. Und Bock auf eine bla bla Konversation über das Thema macht nur schlechte Laune – bei euch. Das rücksichtslose Arschloch, das euch den Disput aufgezwungen hat, hat dann wie ein Vampir oder ein Parasit eure ohnehin begrenzte Energie weiter dezimiert. Da hilft nur eine so klar und unnachgiebig kommunizierte Position mit aller notwendigen passiv-agressiven Schärfe, dass euch jeder weitere Kommentar erspart bleibt.
Bleibt stark! Etam si omnes, ego non.
Ich hab’ gestern bei Twitter gelesen, dass es die Punks von früher heute leichter haben, Maske zu tragen und dafür angestarrt, angegiftet oder beleidigt zu werden. Ich fürchte nur, dass sehr viele Menschen sich nicht freimachen können von gesellschaftlichen Konventionen und Gruppendruck. Für viele ist es herausfordernd af, gegen den Strom zu schwimmen oder aus der Masse heraus zu stechen ;(